Wie utilitaristisches Denken unsere Freiheit gefährdet
Die weitläufig akzeptierte Herangehensweise empirischer Wissenschaften an Problemstellungen erfordert die Messbarkeit von Ergebnissen.
Ein Arzneimittel, das keinen messbaren Heilungserfolg zeigt, der über den Placebo-Effekt hinausgeht, hat in einer wissenschaftlichen Medizin keinen Platz. Ebenso wenig Platz hat ein Konjunkturprogramm, welches die Konjunktur nicht fördert, in einer wissenschaftlichen Ökonomie.
Diese Herangehensweise ist ein gutes Werkzeug, das uns so manchen zivilisatorischen Fortschritt beschert hat, den wir heute nicht mehr missen wollen.
Sie bietet darüber hinaus auch eine Möglichkeit kritischen Hinterfragens von aus Tradition erwachsenen Überzeugungen.
Wir können uns zum Beispiel die Frage stellen „Fördert das Verspeisen von Rhinozeroshorn tatsächlich unsere Potenz?“. Wenn wir dann anhand eigener Überprüfungen oder gar einer Studie zu diesem Thema zum Ergebnis kommen, dass Rhinozeroshorn keine Auswirkungen auf unsere sexuelle Potenz hat, könnten wir dieses Arzneimittel getrost verwerfen und darauf verzichten, die letzten lebenden Nashörner für unsere sexuelle Leistungskraft zu töten und wüssten, dass wir bei diesem „Verzicht“ nichts von Wert verloren haben.
Allgemeiner gesprochen, lautet die alles entscheidende Frage „Erzielt das was wir tun, den von uns beabsichtigten Erfolg tatsächlich?“.
In vielerlei Hinsicht kann die auf Messbarkeit abzielende wissenschaftliche Herangehensweise uns ein Freund und Helfer sein.
Doch sie kann auch eine Gefahr darstellen, wenn sie universalisiert wird und zum einzigen akzeptierten Modus operandi einer rationalen Diskussion mutiert.
In Management-Studiengängen wird gerne gelehrt, dass man bei der Setzung von Zielen darauf achten solle, dass die Ziele das Kriterium der Messbarkeit erfüllen. Nur dann könne man feststellen, ob Ziele auch tatsächlich erreicht wurden und nur dann sei zielgerichtetes Handeln überhaupt möglich.
Plan-Do-Check-Act heißt das Mantra, welches durchdrungen von der „mystischen Kraft“ des Kaizen, den Weg in eine bessere Welt ebnen soll.
Nun haben wir aber ein generelles Problem was die Messbarkeit betrifft: Wir können nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Wenn es um einfache materielle Prozesse geht, fällt uns das Messen leicht. Die Frage „Wird Gemisch A oder Gemisch B beim Verbrennen heißer?“ ist durch eine entsprechende Messung und einen Vergleich der resultierenden Größen leicht zu beantworten.
Die Frage „Ist es besser X zu tun oder Y zu tun?“ können wir hingegen erst beantworten, wenn vorher festgelegt wird, anhand welcher Kriterien sich der Zustand „besser“ feststellen lässt.
Hier aber sind wir an einem Punkt, der eigentlich eine Einigung erfordert, insbesondere dann, wenn die Interessen von Menschen tangiert sind. Denn wer sollte vorgeben, was man unter „besser“ zu verstehen hat?
Die Versuchung, diesen anstrengenden, langsamen und manchmal blockierenden Entscheidungsprozess dadurch zu umgehen, dass Ziele einfach ohne Diskussion vorgegeben werden, ist groß.
Ein Weg auf dem dieses gerne probiert wird, ist die Definition von „besser“ als angeblich messbare Größe und der wohl bekannteste und wirkungsmächtigste philosophische Versuch hierzu, ist der Utilitarismus.
Für diese Denkrichtung erschienen Glück und Leid (bzw. heute auch oft Erfüllung von Präferenzen), als selbstevidente Eigenwerte, geeignet, die Anforderung der Vergleichbarkeit zu erfüllen und ihren Verfechtern nun die Möglichkeit zu geben, ethische Entscheidungen anhand eines objektiven und universellen Kriteriums treffen.
Wenn dieses geistige Experiment nicht an so vielen offensichtlichen Punkten scheitern würde, so wäre es gewiss eine Sternstunde der menschlichen Entwicklung gewesen.
Doch leider löst es die Probleme, die es zu lösen vorgibt, mitnichten.
Denn Glück und Leid sind selbst quantitativ nicht messbar und so bleibt die Entscheidungsfindung wieder eine Frage persönlicher Einschätzung.
Zudem gibt es überzeugende Gründe, die gegen die alleinige Heranziehung von Glück und Leid als Entscheidungskriterien sprechen.
Ein Beispiel liefert das bekannte moralphilosophische Problem eines Arztes in dessen Behandlung sich ein sonst kerngesunder Patient für einen Routineeingriff unter Vollnarkose begibt. Nehmen wir an, in der Behandlung des Arztes befänden sich zudem zwei Patienten, die eine Spenderniere und ein Patient, der ein Spenderherz benötigt.
Nehmen wir nun an, alle diese Patienten würden sehr schnell qualvoll sterben, wenn sie die Organe nicht erhielten und unser in Vollnarkose befindlicher Patient wäre zufällig ein genetisch perfekt geeigneter Spender.
Was sollte der Arzt wohl tun? Sollte er vielleicht den ohnehin in Vollnarkose befindlichen Patienten schmerzlos töten und seine Organe auf die anderen Patienten verteilen?
Ich halte diese Lösung nicht für akzeptabel, selbst wenn, sie von der Glück-Leid-Bilanz her, höchst wahrscheinlich positiv zu betrachten wäre.
Ein anders Beispiel:
Nehmen wir einmal an, jemand könnte eine Maschine bauen, die einen Menschen in einen perfekten Traumzustand versenkt, in dem er zwar für den Rest seines Lebens völlig handlungs- und wahrnehmungsunfähig ist, aber ausschließlich positive Emotionen erlebt und das persönliche Gefühl hat, jede eigene Präferenz zu hundert Prozent verwirklicht zu haben.
Nehmen wir an, dieser Zustand sei irreversibel. Wäre es erstrebenswert sich in diese Maschine selbst hineinzubegeben? Sollte man einen Menschen gar gegen seinen Willen in eine derartige Maschine stecken?
Vor einem ähnlichen Problem steht Stanislaw Lems Romanfigur Iljon Tichy im genialen Buch „Der futurologische Kongress“.
In diesem präsentiert sich dem Protagonisten eine „Pharmakokratie“, also eine Gesellschaftsform, die jeden beliebigen Bewusstseinszustand und gar jede Form von Realitätswahrnehmung über die Gabe von psychoaktien Medikamenten hervorrufen kann.
Der Protagonist verweigert sich dieser, wobei es zu Ende des Buches nicht gerade so scheint, als habe er einen Ausweg gefunden.
Abgesehen von der darin enthaltenen Kritik an den illusionären Gehalten bestehender Gesellschaftsformen bietet es auch eine interessante Erkenntnis, nämlich die, dass Glück, Leid oder Erfüllung von Präferenzen auf ethischem Gebiet keinesfalls Maß aller Dinge sein können.
Mindestens ebenso bedeutsam scheinen weniger greifbare Ideen, wie Freiheit oder Authentizität zu sein, wobei auch diese Betrachtung nicht abschließend, sondern nur eine Erweiterung der möglichen validen ethischen Argumente sein kann.
In der politischen Diskussion allerdings sind diese Ideen wesentlich schwerer zu kommunizieren und zu argumentieren, als die Versuche, Glück und Leid statistisch erfassbar zu machen.
Wer mit der Freiheit des Rauchers argumentiert, hat es heute recht schwer, gegen die argumentative Macht der Statistiken über Gesundheitsschäden anzukommen.
Ein ähnliches Problem hatte ich neulich als ich mit einer bürgerlichen Person über die Ausweitung der Kameraüberwachung diskutierte und dabei gefragt wurde, was ich denn dagegen haben könnte, wenn ich selbst nicht vorhätte, etwas Unrechtes zu tun.
Kameraüberwachung hätte „rein logisch“ betrachtet, überwiegend Vorteile. Mein Argument, dass ich persönlich es einfach nicht wünschen würde, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden, wurde von meinem Gegenüber als Scheinargument abgetan. Es sei nicht allgemeingültig und dürfe demnach kein Maßstab von Politik sein. Freiheit sei nämlich ohnehin kein Wert an sich, sondern gewinne nur, wenn diese zu einer Art quantitativen Erhöhung gesellschaftlichen Wohlbefindens (wie auch immer sowas möglich ist) führe.
Utilitaristisches Denken ist zumindest nach meiner Einschätzung die derzeit bestimmende Grundlage „moderner“ Politik.
Der Satz „Handlung X ist alternativlos“ lässt sich, sofern dieser Satz nur halbwegs ehrlich gemeint und nicht reine Floskel ist, mit „ich halte Handlung X für die, unter utilitaristischen Gesichtspunkten betrachtet, beste Handlung“.
Das wahrhaft Schmerzhafte an der tragikomischen Figur des Politikers ist schließlich nicht, dass er so korrupt ist, wie man ihm das unterstellt, sondern, dass er es nicht ist.
Aber dies nur am Rande.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass persönliche Freiheiten unter dem Vormarsch utilitaristischer Denk- und Argumentationsstrukturen zusehends auf dem Rückzug sind.
Vor einer derartigen Weltsicht ist nämlich an einer in Unfreiheit glücklichen Gesellschaft nicht nur nichts auszusetzen, sondern sie scheint vielmehr erstrebenswert.
So hat denn auch einer der größten utilitaristischen Vordenker, Jeremy Bentham, neben dem Verfassen seiner philosophischen Schriften recht gerne Baupläne für Gefängnisse entworfen. (Stichwort: Panoptikum)
Doch könnte man utilitaristische Denkweisen aus dem politischen Diskurs gänzlich ausklammern? Vielleicht könnte man, doch dies wäre fatal. Denn es wäre geradezu fahrlässig aus einer politischen Diskussion gänzlich die messbaren Wirkungen politischer Handlungen auszuklammern.
Wie aber können wir eine vernünftige Gewichtung zwischen den tausenden Toten durch Nikotin und der persönlichen Freiheit der Raucher herstellen?
Ich denke, wir müssen uns damit abfinden, dass es stets schwierig und eine Frage der fortwährenden Diskussion bleiben wird, eigentlich inkommensurable Größen gegeneinander zu gewichten, denn manchmal müssen selektive Entscheidungen auch auf gesellschaftlicher/politischer Basis getroffen werden.
Dies aber bedeutet gerade, dass wir uns wertmonistischer Totschlagargumente enthalten mögen.