Den Eindruck, dass sich eine neue Form von Spießertum ausbreitet, teile ich mit zahlreichen Feuilletonisten und es wurde inzwischen viel geschrieben über eine „Rückkehr zum Biedermeier“, „die neue Bürgerlichkeit“ oder gar „Spießigkeit als neues Lebensgefühl“. Ein Bisschen hilflos und ein Bisschen bewundernd betrachten inzwischen selbst bürgerlich gewordene Journalisten, die in den 60ern oder 70ern noch echte Revoluzzer waren, eine heutige junge Generation, die wenig für Gesellschaftskritik, aber umso mehr für Karrierepläne und Eigenheim übrig hat.
Oft genug pendeln die Erklärungsmodelle zwischen „fehlender Abenteuerlust“, „medialer Überforderung“, „Wunsch nach Verbindlichkeit“ oder einer „eigentlich gar nicht mal so schlechten Rückbesinnung auf alte Werte“.
Die Werbebranche jedenfalls hat das Lebensgefühl „Spießertum“ bereits als wirksame Botschaft entdeckt und wirbt mit dem Begriff für Bausparverträge, wobei im entsprechenden Spot natürlich das ebenso postmoderne wie obligatorische ironische Augenzwinkern nicht fehlen darf.
Eigentlich will man ja nicht spießig sein, aber wer realistisch ist, sollte nun mal eben vom Eigenheim in dessen vertrauten Wänden man natürlich ausgelassen und verrückt sein darf, träumen. Ich denke, dass diese Botschaft den Zeitgeist durchaus trifft.
Nicht umsonst gibt es jetzt auch ein Jugendmagazin namens „spiesser“, welches sowohl online, als auch als Gratis-Printexemplar in vielen Hochschulen zu finden ist. Tatsächlich macht dieses Magazin seinem Namen alle Ehre. Auf der Online-Präsenz finden sich Beiträge in drei Rubriken: Sprachrohr, Sprungbrett und Spielwiese.
Die Rubrik „Spielwiese“ umfasst wie der Name schon sagt, unterhaltsame Harmlosigkeiten, Tipps für Kinofilme und seichte Literatur, Gewinnspiele und Ähnliches. Die Rubrik „Sprungbrett“ befasst sich, wie sollte es anders sein, in erster Linie mit Karrieretipps.
Die Rubrik „Sprachrohr“ wiederum gliedert sich in Unterrubriken mit Titeln wie „Meine-Deine-Energie-Blog“, „Gefühlsdingsbums“, „Rentner-Kompetenz-Team“, „SPIESSERs gute Welt“, aber auch „Nachgefragt“ oder „SPIESSER debattiert“.
Es ist durchaus nicht so, dass das Magazin gänzlich unpolitisch wäre, immerhin finden sich durchaus auch mal Beiträge zum Mindestlohn oder zu Ökologie-Themen, dies jedoch auf dem Niveau von pädagogisch wertvollen Nachrichten auf dem öffentlich rechtlichen Kinderkanal.
Dass sich dieses Magazin nicht nur an Schüler, sondern auch an Studenten richten soll, scheint auf den ersten Blick wie eine groteske Unterschätzung der geistigen Kapazitäten der Leserschaft, ist es aber mitnichten. Studenten sind inzwischen so; nicht alle aber immer mehr.
Die Rubriken „Sprachrohr“, „Sprungbrett“ und „Spielwiese“ mit ihren Unterrubriken erscheinen mir eher wie eine treffende Beschreibung des psychologischen Inventars des Großteils einer Generation.
Aber warum erlebt eine neue Form des Spießertums eine derartige Konjunktur?